Reisebericht 2002
Fünfmal St. Petersburg - und immer wieder neu !
(Eindrücke unserer Reise vom 2. – 10. November 2002 / von Michael Schaefer – Lebach)
Ob diese wunderschöne und doch so widersprüchliche Metropole an der Newa (mir) jemals all ihre Geheimnisse preisgibt, wage ich immer mehr zu bezweifeln. Und mit jeder Reise – diesmal war es die fünfte – in diese pulsierende Stadt werden die Rätsel für mich beständig mehr und größer – aber keineswegs geringer und kleiner. Zudem muß ich feststellen, dass jede dieser Reisen völlig anders ist und mir die extremen Gegensätze nicht verständlicher, sondern nur bewußter werden.
Von dieser faszinierenden Stadt, die ich bei meiner ersten (Studien)-Reise eigentlich nur in all ihrer „Pracht und Herrlichkeit“ kennenlernte und bewundert habe, erlebe ich nun nach und nach ihre andere Seite. Oder zwinge ich sie inzwischen, mir (klarer) ihr wahres Gesicht zu zeigen, mir keine ihrer ungezählten Facetten mehr zu verbergen? Auf der einen Seite ihre monumentalen Paläste und Kirchen mit all ihrem Gold und Glanz sowie ihre herrlichen großen Bauten und Häuser, deren Fassaden (zumindest in den gewaltigen Pracht- und Flanierstrassen) ein faszinierendes Bild abgeben. Andererseits aber dann – oft schon hinter dieser berauschenden Kulisse – ein beständiger Verfall, ein unübersehbarer und allgegenwärtiger Mangel. Dazu ihre großen Trabantenstädte, mit ihren gigantischen Mietskasernen, wobei ich immer noch nicht begreifen kann, dass in diesen menschen- und lebensfeindlichen Monstern ein halbwegs lebenswertes Leben möglich sein soll.
Zwischen all dem dann diese knapp fünf Millionen Menschen, die in dieser Stadt zu Hause sind (oder nur dort „leben“?) – von denen eine kleine Schicht geradezu im Reichtum schwelgt, die Mehrheit allerdings nur ein bescheidenes Auskommen hat, und schließlich die nicht geringe Zahl derer, die unter ärmlichsten Verhältnissen ihr Dasein fristet. Und all das zumindest mit bedingt durch die verschiedensten Machtstrukturen der russischen Gesellschaft, durch eine permanente Misswirtschaft, durch immer noch latent vorhandenes kommunistisches Denken – und nicht zuletzt durch den Stempel, den die prunkvolle Zarenzeit diesem geschundenen Volk aufgeprägt hat. Letztlich eine allgegenwärtige mehr oder weniger ausgeprägte Ungerechtigkeit, gegen die es vorzugehen fast keine Mittel und Wege zu geben scheint.
All dies versuche ich immer wieder neu zu verarbeiten – und ich würde gerne jedesmal ein wenig mehr verstehen. Doch ich habe das Gefühl, dass meine Fragen zahlreicher und vielfältiger werden, je öfter ich in dieser inzwischen von mir so sehr geliebten Stadt bin. Die Antwort auf dieses Phänomen kann ich immer noch nicht finden. Doch ich glaube langsam, dass sie in dem liegt, was Marc im vergangenen Jahr am letzten Abend sagte, als die Mitarbeiter von „Bereg“ ihn nach seinen Eindrücken am Ende seiner ersten Reise nach St. Petersburg fragten. Seine Antwort scheint diesem Geheimnis zumindest näher zu kommen:
„Michael hat mir diese Stadt und ihre Paläste mit all ihrem Gold gezeigt und ebenso ihre dunkle Seite. Doch das wirkliche Gold habe ich in den Menschen entdeckt, denen ich hier begegnet bin. Nämlich in den Kindern von „Bereg“, den Mitarbeitern, den Menschen, mit denen wir Kontakt hatten, in ihrer unbeschreiblichen Gastfreundlichkeit, in den Behinderten in Pawlowsk und Peterhof sowie den vielen jungen Freiwilligen aus Deutschland – und inzwischen auch einigen aus Russland, - die dort arbeiten.“
Ich bin mir wohl bewußt, dass ich die „russische Seele“ – und damit die Russen als je eigene Menschen und als Volk – nie ganz verstehen werde. Aber ich spüre, dass ich ihnen und sie mir immer näher kommen und dass ich in dieser so widersprüchlichen Stadt und in diesem unendlich weiten und gewaltigen Land, von dem ich bisher nur ein ganz klein wenig kenne, Schritt für Schritt eine neue zweite Heimat finde. Dafür lohnt es sich ganz sicher, diese Widersprüche und oft innerlichen Zerreißproben auszuhalten, denen ich bei jeder Reise neu ausgesetzt bin.
Und dazu gibt es nicht zuletzt „Bereg“ (Das Ufer), dieses Heim mit seinen Strassenkindern und Mitarbeitern. Sie sind ohne Zweifel ein Teil meines Lebens geworden – und ich ein Teil von ihnen. Ohne meine Arbeit hier und die großartige Hilfe sehr vieler Menschen wäre für sie das Überleben leider unmöglich. Mein Leben wäre jedoch – trotz mancher Sorgen, die ich mir deshalb um „Bereg“ und seine Schützlinge und Mitarbeiter mache - ohne sie auch um vieles ärmer. Es ist einfach immer wieder wohltuend und faszinierend, wie diese jungen Menschen mit der Hilfe, die sie bekommen, ihr bis dahin weitestgehend verpfuschtes Leben anpacken und was sie durch die Begleitung der Mitarbeiter im Heim daraus machen.
Es ist einfach schade, dass ich Ihnen nur bruchstückhaft meine Erlebnisse und Gedanken weitergeben kann und dass Sie das nicht selbst erfahren und erleben können. Aber ich hoffe, dass ich Ihnen wenigstens einen kleinen Einblick in unsere Arbeit, über das Heim und diese so liebenswerte und kontroverse Stadt geben konnte.
Michael Schaefer
Spendenkonto:
Straßenkinder „St. Petersburg“
levoBank - Lebach
Konto-Nummer 50540200
Bankleitzahl 59393000